Archive for Feber, 2022

Krieg in Europa

„Von wem in Gottes Namen glaubt Putin das Recht erhalten zu haben, neue Staaten auszurufen auf Gebieten, die seinem Nachbarn gehören!“
(Joe Biden, US-Präsident)

Es ist geschehen! Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hat mit der Invasion in der Ukraine begonnen. Seine Rechtfertigung: Selbst-verteidigung, Schutz der russisch-stämmigen Menschen in der Ost-ukraine, Friedensschaffung in den Gebieten Donezk und Luhansk und die Entnazifizierung der ukrainischen Regierung in Kiew.
Noch vor wenigen Tagen war aus dem Kreml zu vernehmen, kein militärisches Eingreifen in der Ukraine zu planen. Wie auch damals bei der Halbinsel Krim und der Ostukraine hat sich jedoch erneut heraus-gestellt, dass diese Zusagen das Billig-Papier nicht wert waren, auf dem diese Aussagen gedruckt wurden. Putin hat wie schon so oft, sein Wort gebrochen. Möglicherweise da er einen Gesichtsverlust in Russland selbst befürchtet. Die Medien dort sind allesamt staatlich geführt, die wenigen unabhängigen haben keine Bedeutung. Damit erfährt die russische Bevölkerung auch nur eine Version der Situation, kann sich nicht über mehrere Kanäle informieren und selbst eine Meinung bilden. Umso erstaunlicher und lobenswerter, ja heroischer sind die Demonstranten, die dennoch in Russland auf die Strassen gehen um gegen den Krieg zu protestieren – auch wenn sie dafür festgenommen und für unbestimmte Zeit in einem der vielen Gefängnisse verschwinden werden. Zuletzt waren es in 44 Städten tausende Menschen – 1700 wurden festgenommen.
Putin will als starker Mann verstanden werden, der Russland von seinen Feinden befreit und die einstige Sowjetunion wiedervereint (er bezeichnet die Auflösung der Sowjetunion nach wie vor als „„größte geopolitische Katastrophe“ des Jahrhunderts“). Will er damit möglicherweise der immer stärker werdenden Opposition den Wind aus den Segeln nehmen? Der inhaftierte Regime-Gegner Alexei Anatoljewitsch Nawalny liess verlauten, dass er sich gegen diesen Krieg ausspricht! Nachdem sich die Duma für die Anerkennung der beiden sogenannten „Ostukrainischen Volks-republiken“ und den militärischen Einsatz im Nachbarstaat aussprach und dies mit Applaus verabschiedete, könnte Nawalny die einzige wichtige und beachtete Gegenstimme sein – das wird ihn sicherlich nicht zu einer vorzeitigen Begnadigung verhelfen.
Putin wurde durch seine Entscheidung zum Aggressor, zum Despot, zum Kriegsverbrecher, der sich nicht davor scheut, seine Interessen mit Waffengewalt auch in anderen Staaten durchzusetzen.

„…, da der russische Präsident sich für Krieg entschieden hat.“
(Emmanuel Macron, franz. Staatspräsident)

Ich gehe gar noch einen Schritt weiter: Putin rechtfertigt damit die durch die USA unterstützte, jedoch misslungene Invasion Kubas in der Schweinebucht am 17. April 1961, als Exilkubaner mit Hilfe der CIA versuchten, die Insel zu übernehmen. Die USA befürchteten damals durch die Aufrüstung Fidel Castros mit massiver sowjetischer Hilfe ebenfalls einen Angriff auf ihr Land.
Der Angriff Russlands konzentriert sich nicht auf die beiden Problem-regionen sondern betrifft militärische Stützpunkte im ganzen Land. Damit ist das Argument der Friedensstiftung und des Schutzes der russisch-stämmigen Bevölkerung hanebüchen – an den Haaren herbeigezogen. Dieser Krieg wird viele, auch zivile Menschenleben kosten, ein mög-licherweise derart aufgebauter Frieden ein blutiges Fundament haben.
Das Argument der Selbstverteidigung hat sich ebenfalls erledigt, schliesslich verstärkt die NATO ihre Truppen in Polen und den baltischen Staaten massivst. Nun kann er sozusagen den Atem der Nordatlantik-paktes direkt im Genick spüren.
Die Ukraine ist dem „falschverstandenen Friedensstifter“ ohnedies ein Dorn im Auge. Bereits die Land-Gaspipeline durch die Ukraine nach Europa sorgte für zahlreiche Konflikte. Daneben zeigte sich Putin schon mehrfach als Anhänger Zar Alexanders III. So weihte er 2017 auf der drei Jahre zuvor annektierten ukrainischen Halbinsel Krim eine grosse Statue seines Vorbildes ein. Dabei sprach er von „einer Epoche nationaler Wiedergeburt“ als der von 1881 bis 1894 regierende Zar die Schwarz-meerflotte aufbaute und deren Stützpunkt auf der Krim festlegte. Alexander III. war es auch, der den Ausnahmezustand in der Ukraine ausrief, dort mit autokratischer Härte durchgriff und eine ukrainische Sprache, Geschichte und Staatlichkeit verboten hatte. Schon 2008 betonte Putin gegenüber George W. Bush, dass die Ukraine kein eigener Staat wäre. Er scheute sich auch in den Staatsmedien nicht davor, dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu wiederholen, sodass es Boris und auch Olga vom Lande nicht anders kennen. Dem jedoch widersprechen viele Experten und vor allem die Geschichte. So betont beispielsweise der Osteuropahistoriker Andreas Kappeler in seinem Buch „Kleine Geschichte der Ukraine“, dass sich die Ukraine jahrhundertelang eigenständig entwickelt habe. Der emeritierte Professor mit Lehrauftrag in Köln und Wien weist aufgrund der Sprache, Literatur und Staatlichkeit eine unter-schiedliche geschichtliche Entwicklung zwischen Russland und der Ukraine nach. Das Kiewer Reich wurde durch skandinavische Wikinger gegründet und bestand aus einem Verband von Fürstentümern, dem neben Kiew auch Minsk, Nowgorod und Smolensk angehörten. Kappeler zählt deshalb die Ukraine als ein Teil zu Polen-Litauen, während Moskau ursprünglich Teil des Mongolenreichs war. Deshalb entwickelte sich die Ukraine in der Geschichte zusehends in Richtung Westen, das Herr-schaftsideal in Richtung der französischen Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Moskau hingegen schottete sich ab, Russland wurde stets zentralistisch und autokratisch regiert. Putins Ansprache zur Annexion der Krim analysiert Kappeler in einem eigenen Kapitel seines Buches. Sein Resumee: „Falsche Behauptungen und Verdrehungen“! Historisch alleiniger Anspruch auf die Krim hätten alsdann die muslimischen Krimtataren!
Boris Jelzin, der Vorgänger Putins, war diesbezüglich wesentlich auf-geschlossener und moderner. Er hatte eine Kommission eingesetzt, die sich der tatsächlichen „nationalen Idee“ widmen sollte. Unter Putin hingegen wurde vieles der durch Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika zugunsten des zaristischen, autokratischen Führungsstiles eingefroren.
Die Maidan-Revolution in der Ukraine brachte das Fass des Ex-KGB-Offiziers zum Überlaufen. Russland geht – ebenso wie die Sowjetunion damals – wirtschaftlich den Bach runter. Es droht der Abstieg von der Weltmacht zur Lächerlichkeit. Armut in grossen Teilen der Bevölkerung – der Kampf ums Brot gilt grundsätzlich als Auslöser der meisten Revolutionen. Maidan in Moskau – ein Schreckensbild, das der Autokrat mit allen Mitteln seit seinem Machtantritt zu verhindern versucht. Putins Ideale finden sich in einer zaristischen Grossmacht, die auf diesem Globus das letzte Wort zu sagen hat.

„Das, was wir uns in 1.000 Jahren erarbeitet haben, war zu einem bedeutenden Teil verloren!“
(Wladimir Putin zum 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der UdSSR)

Obgleich der Diktator nach wie vor den Mitgliedsausweis der KPdSU besitzt, sind es wohl mehr die Ideale der Zarenzeit, die ihn faszinieren als jene des Kommunismus. Schliesslich müsste er ansonsten die ihm wohlgesonnenen, urkapitalistisch agierenden Oligarchen und seinen Palast am Schwarzen Meer (Kap Idokopas), seine Konten im Ausland etc. rechtfertigen.
Putin rief zuletzt die ukrainische Armee dazu auf, ihre eigene Regierung zu stürzen. Mit seiner Entscheidung zur Invasion in der Ukraine, hat sich Putin in die Liste der Kriegsverbrecher Im 20./21. Jahrhundert in Europa eingeordnet. Ob die Gesellschaft neben Hitler und Milošević erstrebens-wert ist, sei dahingestellt.
Mehr möchte ich heute gar nicht in die Materie einsteigen – die Lage ändert sich nicht nur von Tag zu Tag, sondern von Stunde auf Stunde. Nur möchte ich mit einer Überlegung schliessen, die wohl alles auf den Punkt bringt:
Michail Gorbatschow stand das Wasser bis zum Halse. Er machte das einzig richtige: Er zog die Reissleine. Aus dem erwarteten Chaos durch die Auflösung des Vielvölkerstaates Sowjetunion und des Ostblocks entstand eine Vielzahl an Nationalstaaten, die sich selbst entwickeln konnten – viele davon im Frieden, einige im Krieg. Doch Gorbatschow rettete Russland! Putin hingegen versucht, die Uhr mit aller Gewalt imperialistisch zurück zu drehen. Weit entfernt von Glasnost! Sei es beim Krieg in Georgien 2008 oder bei der Intervention in Tschetschenien 1999 bzw. jetzt in der Ukraine. Aber auch im Ausland: Syrien, Libyen, …! Nahezu überall wo Putin draufsteht, ist auch Putin drin: Waffengewalt und Krieg! Friedensstifter?
Wie lange hält ein Frieden, der mit Waffen erwirkt wurde?!

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Telegram – rechts, rechtens oder nicht, das ist hier die Frage

„Wir unterstützen die Meinungsfreiheit und den friedlichen Protest, aber Terrorismus und Gewaltpropaganda haben bei Telegram keinen Platz!“
(Ein Repräsentant von Telegram 2019)

Viele von uns – so auch ich – konnten bis vor einigen Monaten nicht wirklich viel mit „Telegram“ anfangen. Social Medias und wie in diesem Falle auch Messengerdienste gibt es derer viele – man kann sie gar nicht mehr alle kennen, geschweige denn nutzen. Erst aufgrund der Demo-kratiebewegungen in Belarus und dem Iran, aber auch als die vielen Verschwörungstheoretiker und Rechtsradikalen auf den gängigen Platt-formen gesperrt oder gelöscht wurden, kam Telegram ins Spiel. Was steckt nun wirklich dahinter?
Telegram wurde durch die beiden Brüder Nikolai und Pawel Durov in Russland gegründet. Bereits zuvor versuchten sie, mit VK.com ein Gegenstück zu Facebook auf die Beine zu stellen. Pawel Durov befindet sich mitsamt seines Kernteams inzwischen in Dubai/Vereinigte Arabische Emirate (VAE). Auf Telegram konnten bislang zumeist ungestört bzw. unkommentiert Nachrichten versandt werden, die in manchen Fällen zur Gänze gegen bestehendes Recht in Deutschland und auch Österreich verstossen: Aufrufe zur Gewalt, zum Verstoss gegen Gesetze, Beleidigungen, Hassrede, Volksverhetzung und gar Morddrohungen! Während andere Plattformen wie Facebook, Twitter, WhatsApp etc. an regionale Gesetze gebunden sind und derartige Posts löschen müssen (Netzwerkdurchsetzungsgesetzes NetzDG in Deutschland bzw. Kommunikationsplattformen-Gesetz KoPl-G in Österreich), unterliess dies Telegram trotz mehrfacher Aufforderung und auch Geldstrafen! Viele der User veröffentlichten ihre Nachrichten vornehmlich in Einzel- und Gruppenchats, einige gar auch in den öffentlich einsehbaren Kanälen. Die meisten unter ihrem realen Namen mit Bild – nicht mal mit einem Nick-name.
Obwohl Europol bereits 2019 mit Telegram zusammenarbeitete (Löschung dschihadistischer Propaganda) dauerte dies in Deutschland wesentlich länger. Nach einem ersten Gespräch Anfang Februar 2022 kam es am 10. desselben Monats zu einem zweiten Arbeits-Austausch der deutschen Bundesregierung und dem Unternehmen via Video-Konferenz, an dem Pawel Durov auch persönlich teilnahm. Erstmals hat schliesslich das Unternehmen auf Ersuchen des deutschen Bundes-kriminalamtes 64 Kanäle gesperrt, darunter sieben des seit Februar 2021 mit Haftbefehl gesuchten Ex-Vegan-Kochs Attila Hildmann, der sich in der Türkei versteckt halten soll. Er nutzte Telegram vornehmlich zur Verbreitung seiner wirren Verschwörungstheorien an rund 100.000 Abonnenten. Auch einige antisemitische Hetzer sollen sich hinter den geschlossenen Accounts befunden haben.

„Telegram darf nicht länger ein Brandbeschleuniger für Rechts-extreme, Verschwörungsideologen und andere Hetzer sein. Mord-drohungen und andere gefährliche Hassposts müssen gelöscht werden und deutliche strafrechtliche Konsequenzen haben.“
(Bundesinnenministerin Nancy Faeser)

Viele unter Ihnen werden sich nun denken: Dann sperrt diesen Dienst einfach für Deutschland, die Schweiz und auch Österreich! Wie es Herr Erdogan in der Türkei u.a. mit YouTube vorexerziert hat. Nun – ganz so einfach ist das wiederum auch nicht, gehen doch dann die derzeit demonstrierenden und auf ihre Rechte pochenden Menschen erst recht auf die Strasse um die Meinungsfreiheit einzufordern. Jene Freiheit also, die in derartigen Vereinigungen selbst meist schamlos unterdrückt wird. Zudem hat dies Russland auch schon versucht. Telegram verlagerte daraufhin seine Dienste auf Server von Amazon.
Also mussten andere Wege gefunden werden. Doch einfach war dies scheinbar nicht: An wen und welche Adresse sollte ein Bussgeldbescheid gegen das Unternehmen zugestellt werden? Zwei Bussgeldverfahren sind bereits im Mai 2021 als Verbalnote durch die deutsche Botschaft an das VAE-Aussenministerium übergeben worden. Das Rechtshilfeverfahren konnte bislang noch nicht abgeschlossen werden, die beiden Bussgeld-verfahren befinden sich deshalb noch im Stadium der Anhörung. Schliesslich gelang es doch – wenn auch mit der Hilfe des Apple-Konzerns. Und die angedrohten Bussgelder in der Höhe von 55 Mio Euro dürften auch den Brüdern Durov zu hoch gewesen sein.
Der Messengerdienst steht schon seit geraumer Zeit unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Das Ganze als „Spinnereien“ verharmlosen zu wollen, wäre nicht nur der falsche Weg, sondern auch eine sträfliche Vernachlässigung und Missachtung der Gesetze. So wurde beispielsweise im Dezember dazu aufgerufen, den Ministerpräsidenten Sachsens, Michael Kretschmer (CDU) für seine Politik in Sachen Corona töten zu wollen. Dies beklagt auch das Bundeskriminalamt in Berlin: Der Ton würde immer aggressiver! So werden beispielsweise Politiker, die in den entsprechenden Parlamenten für die Impfpflicht votierten, als „Volks-verräter“ bezeichnet, die „ihre Quittung kriegen“ werden. In Österreich ist auf Telegram von einem „zweijährigen Faschismus“ die Rede, „der Umbau wird im Hintergrund weiter vollzogen“! In einer anderen Nachricht ist das Gesicht des Bundespräsidenten Alexander van der Bellen mit einem Fadenkreuz versehen worden. Auch in der Schweiz werden offiziell Hass-nachrichten gegen Politiker, wie den Gesundheitsminister Alain Berset („Der Massenmörder gehört öffentlich hingerichtet!“) oder Medien-schaffenden („Vielleicht sollte man mal die TV-Studios abfackeln und den Moderatoren die Fresse polieren!“) gepostet.

„Bei Telegram muss der Staat schnell reagieren!“
(Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD))

Klar – wie auch anderswo auf dem Datenhighway ist es im Vergleich eine Minderheit, die das Medium zur Radikalisierung nutzt. Daneben sollten aber auch die Verschwörungstheoretiker berücksichtigt werden, deren Meldungen teilweise wie Auszüge aus den Tagebüchern von Geistes-kranken zu lesen sind. Ach ja – und schliesslich gibt es noch jene, die Tipps und Kontakte suchen: Wie kann die Impfpflicht umgangen werden, wer stellt gefälschte Impfpässe oder Atteste aus etc. Übrigens wird vermehrt ernsthaft dazu geraten, obdachlos zu werden, zumindest für den Staat!
Obgleich all die Möglichkeiten mehr als bedenklich sind, geht es der Exekutive wie etwa dem BKA, um die Verhinderung von Straftaten, von Volksverhetzung und Fehlinformation. So nutzt beispielsweise die Quer-denker-Szene Telegram zur Vernetzung. Auch diese Bewegung steht schon seit Monaten unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Unter ihnen befinden sich viele gewaltbereite, zumeist rechtsradikale Mit-glieder, die sich über die unterschiedlichsten Chats auch für Übergriffe bei Demonstrationen an der Polizei verabreden. Die Morddrohungen gegen Kretschmer kamen ebenso aus dieser Bewegung wie auch die Fackelaufmärsche vor dem Haus der Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig (SPD). Tatsächlich sind es erschreckend viele Personen, die erreicht werden. So soll beispielsweise die Splitter-gruppe „Querdenken 711“ rund 60.000 User erreichen. Im Frühjahr 2020 von Michael Ballweg gegründet, bezeichnet sie sich auf ihrer Website als „friedliche Bewegung, in der Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat“. Ballweg selbst hat den Slogan von QAnon zitiert, ein Naheverhältnis zu Reichsbürgern und Querdenken 341, die wiederum in Verbindung mit Rechtsextremen steht. Er und auch seine Bewegung Querdenken 711 wurden auf Facebook im September 2021 gesperrt.
Wie nun funktioniert Telegram? Jedes Mitglied einer Chatgruppe kann seine Meinung vielfach ungefiltert durch die Moderatoren der Gruppe kundtun. Die durch Facebook und Twitter bekannten Likes werden als Push-Nachrichten auf das Handy des Autors weitergegeben. So manch Einer fühlt sich dadurch bestätigt und vergreift sich bei seiner Sucht nach möglichst vielen dieser Push-Nachrichten auch mal in seinem Ton, der mit der bekannten „Netiquette“ bzw. im Extremfall den Strafgesetzen nicht mehr vereinbar ist.

„Ich bin sicher, man kann auch sie gesund ficken. Aber zuerst entlausen und lange duschen lassen…!“
(Nachricht über eine Gegendemonstrantin nach einer Anti-Massnahmen-Demo)

Allerdings können derartige Beiträge ganz simpel mittels Knopfdruck geteilt werden, wodurch viele eine geschlossene Gruppe verlassen. Seit dem 01. Februar 2022 müssen die Betreiber von Plattformen rechts-widrige Inhalte aus dem Bereich der „Hasskriminalität“ nicht nur löschen sondern auch an das deutsche Bundeskriminalamt melden (Netzwerk-durchsetzungsgesetz). Die Durov-Brüder betonten bislang stets, dass Telegram keine Plattform, sondern vielmehr ein Messengerdienst wäre – ähnlich wie WhatsApp. Stellt sich jedoch die Frage, weshalb Facebook, Twitter usw. Posts auch aus den Chats melden sollen, wenn sich Telegram nicht daran hält. Facebook und Co. dienen als Plattformen der öffentlichen Kommunikation, Telegram hingegen ist ein Hybrid. In Österreich stuft deshalb die KommAustria, die Regulierungsbehörde für Rundfunk und audiovisuelle Medien, auch Telegram zur Gänze in den Wirkungsbereich des Kommunikationsplattformen-Gesetz (KoPl-G) ein. Auch in Deutschland fordern deshalb die Experten die Gleichbehandlung des Messengerdienstes mit Plattformen. Schliesslich können Kanäle abonniert, Beiträge geteilt, Gruppen-Videocalls eingerichtet und Umfragen gestartet werden. Massnahmen, die weit über die Möglich-keiten eines blossen Messengerdienstes hinausgehen. Die EU diskutiert inzwischen über einen europäisch-einheitlichen „Digital Services Art“ (DSA), der solche Probleme, wie beispielsweise die Sorgfaltspflicht von Plattformen, regeln soll.
Auch wenn das Vermögen der Durovs auf 17,2 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, plant Telegram unterdessen die Einbindung von Werbe-schaltungen („Monetarisierung“). Bleibt abzuwarten, welche heimische Unternehmen sich nicht um dieses „G’schmäckle“ scheren, das einige wenige verursachen, dem sich auch bereits eine Task-Force des deutschen Bundeskriminalamtes angenommen hat, mit dem aber einige Millionen User weltweit nichts zu tun haben!

Links:

– www.isdglobal.org
– www.bmj.de
– www.bmi.bund.de
– www.cemas.io
– freiheitsrechte.org
– www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home.html

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Olympische Winterspiele – wie sie nie mehr wieder sein sollten

„Wenn ich noch aktiv wäre, würde ich mich mit meinen Äußerungen zurückhalten, bis ich wieder im Flieger zurück sitze.“
(Sven Hannawald)

Ein Fest des Sports, der Spitzenleistungen, der Freude und des Mitein-anders, des „Über-den-Tellerrand-Hinausschauens“ der Sportler – das sind die Olympischen Spiele! Oder vielmehr waren sie dies einmal. Leider geht es seit geraumer Zeit schon um ganz andere Dinge. Und Beijing ist die Spitze der Perversion. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte ganz zurecht am 05. Februar:

„China zeigt dem Rest der Welt den Mittelfinger“!
(Yaqiu Wang, Human Rights Watch)

Ich werde Ihnen nun die Gründe meines Denkens in Folgenden etwas näher bringen.

.) China und die Menschenrechte
Das Reich der Mitte steht nicht wirklich für den kommunistischen Gleich-heitsgrundsatz der Arbeiterklasse. Viele Völker, wie etwa die Tibeter oder Uiguren (muslimische Minderheit), werden nicht wie der Rest der Chinesen behandelt. Wenn nun also eine Uigurin als Fackelläuferin bei der Eröffnungszeremonie zum Einsatz kam, so hat dies wohl vornehmlich mit dem ständigen Lächeln der Regierungsvertreter zu tun. Menschenrechtler und auch Uiguren sprechen von einer „schändlichen“ Propaganda-Aktion. Langläuferin Dinigeer Yilamujiang ist auch in ihrer Heimat nicht wirklich bekannt. Die USA, Grossbritannien, Kanada, Australien und Japan haben die Spiele deshalb diplomatisch boykottiert (keine offizielle Entsendung von Regierungsvertretern), da sie sich mit dem Umgang mit Uiguren und anderen Minderheiten in China nicht als einverstanden erklären. So wurden in den letzten Jahren nur in Xinjiang rund eine Million an Ver-tretern von Minderheiten in sog. „Umerziehungslager“ (offiziell: „Fort-bildungseinrichtung“) kaserniert. Die Rede ist von Misshandlung, Folter, ideologische Indoktrinierung etc. Wenn nun die Sportlerin gemeinsam mit ihrem Kollegen von den Nordischen Kombinierern, Zhao Jiawen, die Olympische Flamme entzündet hat, so ist dies nur ein Trugbild. Die deutsche Regierung entschuldigte sich mit Terminkollisionen. Viele der österreichischen Regierung (unter ihnen auch Vizekanzler und Sport-minister Werner Kogler) blieben bewusst fern. Dies führte wiederum zu heftiger Kritik der FPÖ: So empfahl der 3. Nationalratspräsident Norbert Hofer eine „umfassendere Betrachtung der Beziehungen zwischen Öster-reich und der Volksrepublik“, heisst es aus seinem Büro.

„Als die zweistündige Show ihre spektakuläre Auflösung erreichte und zwei junge Athleten vereint die olympische Flamme entfachten, hatte die Sache einen Haken. Eine von ihnen, die den symbolischen Akt ausführte, war die chinesische Langläuferin Dinigeer Yila-mujiang, die uigurischer Abstammung ist. Um es milde auszu-drücken, das war ein hoch provokanter Akt.“
(Guardian)

.) China und das Recht auf freie Meinungsäusserung und Presse-freiheit
Das Reich der Mitte steht nicht wirklich für freies Gedankengut und Information. Davon weiss u.a. auch der ARD-Korrespondent in Shanghai, Steffen Wurzel, zu berichten. Seine Turnuszeit hätte ohnedies Ende Februar geendet, doch bereits zuvor wurde ihm die Arbeitserlaubnis entzogen. Er meint, dass untereinander sehr wohl kritisiert wird. Geht das Ganze jedoch an die Öffentlichkeit, so ist der Entzug der Arbeitserlaubnis noch die wohl harmloseste Konsequenz. Andere fahren ein – Knast oder Arbeitslager. Spricht man untereinander vom Staatschef, so wird es plötzlich sehr ruhig, im Gespräch ist dann nurmehr von „ihm“ die Rede. Ein Sportmoderator meinte ebenfalls kurz vor der Abreise nach China, dass er mit seltsam gemischten Gefühlen in den Flieger steige. „Die Welt ist zu Gast“ (Offizieller Slogan der Winterspiele) – jep, doch danach wird’s wieder Zeit, ohne vorher zu motzen, wieder gen Heimat zu fliegen. Davor werden noch fleissig Gesichtsscans gemacht, Social Media Konten kopiert, Telefonate und Interviews abgehört! Der Big Brother ist überall. Alleine im Pressezentrum sollen 63 Kameras hängen und jede Menge Mikrophone installiert worden sein.

„Die Position des IOC muss angesichts seiner Neutralität sein: Wir kommentieren politische Angelegenheiten nicht. Wenn wir einen politischen Standpunkt einnehmen, zwischen Spannungen geraten, Streit und Konfrontation politischer Mächte, dann bringen wir die Spiele in Gefahr.“
(Thomas Bach, Präsident des IOC)

Dem beugten jedoch die Veranstalter vor. So meinte der hocghrangige chinesische Sportfunktionär Yang Shu, dass sich Verhalten oder Meinungsäusserungen, die sich „gegen den olympischen Geist“ richten „mit einer bestimmten Bestrafung geahndet werden, insbesondere wenn sie chinesische Gesetze oder Regeln verletzen“. Damit ist wohl alles gesagt! Das Reich der Mitte wünscht sich offenbar keinen zweiten Fall „Peng Shuai“, in dem die Tennisspielerin dem Vize-Regierungschef Zhang Gaoli vorgeworfen hatte, sie zum Sex gezwungen zu haben. Unter welchen Umständen Peng Shuai ihre Vorwürfe zurücknahm, ist nach wie vor nicht ganz geklärt.

.) China und die Instrumentalisierung des Sports
Sie steht in Zhangjiakou – das Vorzeigeprojekt Chinas bei diesem Olympischen Winterspielen: Die neue Schisprungschanze! Ein riesiges Monument, mit dem sich die Macher ein Denkmal setzen wollten. Was wird wohl aus dieser Anlage, wenn die olympische Flamme erloschen ist??? Der Doppelweltmeister und Gewinner der Silbermedaille im Biathlon bei den Olympischen Winterspielen von Sotschi 2014, Erik Lesser, bringt’s wohl auf den Punkt: „Geld, Geld generieren. Um nichts anderes geht es hier!“ Durch Gigantomanie wollen wohl die Veranstalter noch mehr Investoren ins Land holen. Hauptsache besser und grösser als bei den Russen, Südkorea und Japan!

„Die Anlagen sind einfach geisteskrank.“
(Erik Lesser)

Und das ist noch lange nicht alles. IOC-Präsident Thomas Bach verbeugte sich bei der Eröffnung der Spiele vor China’s Nummer 1, Xi Jinping. Dieser jedoch erwiderte die Verbeugung nicht, wie es ansonsten in Fernost zur guten Sitte gehört. Können sportliche Grossveranstaltungen tatsächlich nicht mehr in demokratischen Staaten abgehalten werden? Autokratien oder Diktaturen treiben das Spiel immer weiter, höher, poah – was ist das denn?!!! Wenn das olympische Feuer von Soldaten im Stechschritt begleitet wird – sind die Bilder von Berlin 1936 komplett in Vergessenheit geraten?

„Ein lang gehegter Traum geht in Erfüllung!“
(Cai Xi, OK-Chef China)

Fragt sich, welcher Traum! Nun, das IOC wird sich auch weiterhin weigern, politisch Stellung zu nehmen. Schliesslich soll der Sport im Mittelpunkt stehen. Doch werden nach wie vor Spiele an Ausrichter vergeben, die solche wundervolle, gigantische Bilder in die Welt schicken. Die Athleten avancieren immer mehr zu Statisten. Stellt sich somit die Frage: Sport als Mittel zum Zweck?

.) China und Corona
Sportliche Grossveranstaltungen im Zeichen Coronas: Brot und Spiele? Dabei ist Kritik an den Sportlern fehl am Platz. Sie trainieren auf den Punkt hin, um an ihrem Einsatztag das Möglichste, nein, das Beste geben zu können. Schliesslich ist die olympische Goldmedaille ideell immer noch das höchste Ziel, das im Sport erreicht werden kann. Selbst-verständlich auch wirtschaftlich, da die Haltbarkeit im Leistungssport sehr begrenzt ist und wohl die meisten in diesen wenigen Jahren auch wirklich gut verdienen wollen. Es sei ihnen gegönnt! Doch hat Corona in diesem Falle nichts mit Berufsrisiko zu tun! Hier wird eindeutig die Gesundheit der Athleten in den Hintergrund gestellt. Zudem stachelt das Publikum im Stadion, entlang der Strecke oder im Zielraum jeden (auch den Schlechtesten) zu persönlichen Höchstleistungen an. Fehlt dieses Publikum bleibt ein bedrückendes Gefühl übrig. China hat ferner die massivsten Pandemiemassnahmen auf diesem Globus gesetzt. Einerseits um dadurch aufzuzeigen, dass das, was aus diesem Land gekommen ist, jetzt unter Kontrolle scheint. Andererseits um zu vermeiden, dass bei einem Fehler, einem Lapsus plötzlich einige Millionen davon betroffen sind. Andere, für unsereins unvorstellbare Massstäbe! Inzwischen wurden immer mehr Stimmen laut, die die Art der Quarantäne kritisieren. So soll der deutsche nordische Kombinierer, Doppel-Olympiasieger (2014/2018) und Medaillenfavorit Erik Frenzel in einem Zimmer untergebracht worden sein, das wohl eher einer Gefängnis-Zelle entspricht. Vielen anderen Sportlern und Sportlerinnen werden zuhause dasselbe zu berichten wissen. Der Chef de Mission des deutschen Teams, Dirk Schimmel-pfenning, sprach nicht nur in diesem Falle, sondern auch beim Eis-kunstläufer Nolan Seegert von „unzumutbar“! Erst nach dieser Kritik konnten Frenzel und Seegert in ein anderes Zimmer umziehen. Diese Umstände waren jedoch bereits bekannt. Nach dem ersten Weltcup der Saison in Yangqing hatten sich die deutschen Rodler lautstark darüber beschwert. Die Zusicherung über eine Verbesserung sei jedoch nicht eingehalten worden, betont Schimmelpfennig. Übrigens lag Frenzel bei seiner Testung unter 30 CT – der Grenzwert in China liegt jedoch bei 40 CT! Sven Hannawald war es schliesslich, der die Vermutung äusserte, dass bei kritischen Sportlern plötzlich aus einem negativen ein positiver PCR-Test werden könnte.

.) China und die Nachhaltigkeit
Das IOC wäscht stets die Hände in Unschuld: Die Vergabe von Olympischen Spielen erfolgt stets auch unter der Vorgabe der Nach-haltigkeit! Das betrifft nur geringfügiger Eingriff in die Umwelt, Nutzung bestehender Infrastruktur und die weitere Verwendung der Sportanlagen. Bereits in Sotschi/Russland wurden Einwohner enteignet, zwangsum-gesiedelt und ganze Landstriche für die perfekte Piste planiert.

„Aber zu wissen, wie dieses Gebiet vorher ausgesehen hat, macht mich traurig. All das für drei Wochen.“
(Erik Lesser auf Instagram)

Dort, wo diese Pisten, Stadien und Anlagen aufgezogen wurden, stand zuvor nichts, das für eine wintersportliche Nutzung sprechen würde. Die weitere Nutzung danach steht gross in Frage. Erik Lesser ist Biathlet. Die riesige Anlage für die Biathlon-Bewerbe wurde in Kuyangshu errichtet. Nicht nur dort, sondern in den grössten Teilen Chinas weiss man mit dem Begriff „Biathlon“ rein gar nichts anzufangen. Auch über weitere grosse internationale Bewerbe dort ist nichts bekannt.

Viele hochrangige Sportfunktionäre aus Deutschland und Österreich bezeichnen es inzwischen als grossen Fehler, angesichts vornehmlich der Menschenrechtssituation in China die Vergabe im Jahr 2015 an das Land vorgenommen zu haben. So etwa auch die ehemalige Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer, Sylvia Schenk. Sie ist heute als Sport-beraterin bei Transparency International tätig. Diese Entwicklung sei möglicherweise damals noch nicht vorhersehbar gewesen – inzwischen verlange der Ausrichtervertrag von Bewerbern die Achtung der Menschenrechte. Übrigens haben sich viele der Sponsoren der Olympischen Spiele wie Allianz, Airbnb, Coca Cola, Intel, Procter & Gamble oder Visa nicht von möglichen Menschenrechtsverletzungen des Ausrichterlandes distanziert.

„Für uns als IOC-Sponsor stehen die Werte der olympischen Bewegung – Exzellenz, Freundschaft und Respekt – sowie die Leistungen der Athleten an erster Stelle!“
(Pressemitteilung Allianz)

Und von Andrea Fairchild von Visa war zu erfahren:

„Wir sind gegen Völkermord, wo immer so etwas passiert!“

Vom US-Senator Tom Cotton befragt, ob sie das, was im chinesischen Landesteil Xinjiang als Völkermord bezeichnen würde, meinte sie, dass das von ihr vertretene Unternehmen sich nicht in der Lage sehe, dies zu beurteilen. Dabei müsste es diesen Global-Players bekannt gewesen sein, dass dort etwas nicht stimmt, meint auch die Wirtschaftsethikerin Alicia Hennig vom Internationalen Hochschulinstitut (IHI) in Zittau. Schliesslich gäbe es die Unterdrückung der uigurischen Minderheit in China und die Lage in Tibet und Hongkong ja schon seit längerer Zeit („Man wusste ja schon, was in China Sache ist.“). Japan hingegen ist hier einen Schritt weiter – allerdings aus anderen Gründen: Der Automobil-Hersteller Toyota stoppte bereits im Sommer seine Olympia-Werbung! Seine Befürchtung: Imageschaden!
Der Vollständigkeit halber erwähnt: Neben den bereits benannten Unter-nehmen treten auch folgende Unternehmen als Sponsoren der Olympischen Spiele in China auf:
Alibaba
Atos
Omega
Panasonic
Samsung

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Arabischer Frühling – was übrig blieb! – Teil 2

Nachdem sich ein tunesischer Gemüsehändler im Dezember 2010 auf dem Marktplatz von Sidi Bouzid selbst verbrannte, war der Funke aus-gelöst: Ohne Rücksicht auf Ländergrenzen kam es in allen arabischen Ländern zu Demonstrationen, Unruhen, Revolutionen und Bürgerkriegen. Geschichtsexperten sprechen gar von einer „historischen Zäsur“ – ähnlich dem Fall der Mauer in Deutschland. Doch: War es ein Weg vom Regen in die Traufe? Gehen wir wieder in ’s Detail!

.) Jemen
Am 27. Januar 2011 greift der Arabische Frühling auf den Jemen über. Nicht weniger als 16.000 Menschen demonstrieren in der Hauptstadt Sanaa gegen das Regime von Präsident Ali Abdullah Salih. Die Proteste reissen auch nicht ab, als am 02. Februar Salih erklärt, dass er nicht wieder kandidieren und das Amt auch nicht an seinen Sohn weitergeben werde. Im März schlagen Soldaten die Unruhen blutig nieder. Doch gärt es weiter. Am 20. März wird die Regierung Salih entlassen – er erklärt sich jedoch erst im April dazu bereit zurückzutreten. Nun marschieren Stammesmilizen gegen die Regierungstruppen auf. Erst im November unterzeichnet Salih ein Abkommen, das die Machtübergabe an den Vizepräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi vorsieht und innerhalb von 90 Tagen Präsidentschaftswahlen zusagt. Dieses wird jedoch nicht von den schiitischen Huthi anerkannt. Salih verbündet sich mit ihnen gegen die Übergangsregierung, die späterhin faktisch entmachtet wird. Inzwischen haben sich einzelne Generäle mit ihren Truppen selbständig gemacht – sie spielen nach eigenen Regeln. Am 26. März 2015 beginnt die „Operation Decisive Storm“ („Sturm der Entschlossenheit“), eine politische und militärisch Intervention, angeführt von Saudi-Arabien und den Teilnehmerstaaten Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, den VAE, Jordanien, Marokko sowie dem Sudan und dem Senegal. Unterstützt wird diese Allianz von den USA, Frankreich und Grossbritannien. Truppen greifen, ebenso wie Teile der Armee und der sunnitischen Stammesmilizen auf der Seite des rechtmässigen Präsidenten Hadi ein. Allerdings kämpfen auch die al-Qaida (AQAP) und ein Ableger des IS gegen die Huthi-Rebellen. Sie verfolgen jedoch eigene Interessen. Obgleich die Rebellen nahezu keine Gebietsverluste zu beklagen haben, erklärt Saudi-Arabien die Operation bereits am 21. April 2015 als beendet. Gewinner hingegen sind die Dschihadisten, die die Kontrolle über weite Gebiete entlang der Küste des Golfs von Aden erlangten. Am 22. April beginnt die „Operation Restoring Hope“ („Wiederherstellung der Hoffnung“). Inzwischen meldet sich der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten zu Wort. Er bezeichnet die Luftangriffe der Allianz als Verstoss gegen das inter-nationale humanitäre Völkerrecht. Während im Jemen weiterhin gekämpft wird, enden die durch die UNO vermittelten Friedensgespräche in Genf ohne Ergebnis. Die humanitäre Situation ist bereits dermassen proble-matisch, sodass die UNICEF im Jahr 2018 von „living hell for children“ spricht. Marokko und die VAE ziehen daraufhin Truppen aus der Allianz ab. Der erste Waffenstillstand im April 2020 wird auch von Saudi-Arabien selbst nicht eingehalten, obwohl von dort ausgerufen. Den zweiten Waffenstillstand im März 2021 lehnen die Huthi-Rebellen ab. Der Bürger-krieg tobt weiter.

.) Libyen
Am 18. Februar 2011 kommt es in der libyschen Hafenstadt Bengasi zu Massenprotesten! Nachdem die Einsatzkräfte hart durchgreifen, sind Dutzende Todesopfer zu beklagen. Staatschef Muammar al-Gaddafi will die Zustände von Tunesien und Ägypten in seinem Land verhindern: Er kappt die Internetverbindungen, wodurch selbstverständlich auch Face-book und Twitter betroffen sind. Nachdem das Militär brutal gegen die Demonstranten vorgeht, treten viele hochrangige Politiker zurück. Im Osten des Landes sammeln sich unterdessen die Gegner Gaddafis. Dort bringen sie weite Gebiete unter ihre Kontrolle. Aus den Demonstrationen hat sich ein blutiger Bürgerkrieg entwickelt. Am 17. März verabschiedet der UN-Sicherheitsrat die „Resolution 1973“ (zehn Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen). Gefordert wird dabei ein sofortiger Waffenstillstand und die Einrichtung einer Flugverbotszone. Die Einhaltung dieser kontrollieren NATO-Truppen – allen voran die USA und Grossbritannien. Mit Hilfe dieser NATO-Truppen gelingt es den Rebellen, die inzwischen einen Nationalen Übergangsrat gegründet haben, Gaddafi zu stürzen. Am 20. Oktober wird er nahe seiner Geburtsstadt Sirte aufgegriffen und unter nach wie vor noch nicht geklärten Umständen erschossen. Am 07. Juli 2012 finden die Wahlen zum Allgemeinen Nationalkongress statt. 39 der 80 Parteisitze gehen dabei an die Allianz der nationalen Kräfte unter Mahmud Dschibril. Am 04. Dezember stimmt die Nationalversammlung für die Einführung der Scharia. Diese Entscheidung lässt den Bürgerkrieg erneut aufflammen. Die beiden Fronten werden von den unter-schiedlichsten Staaten mit den unterschiedlichsten Zielen unterstützt, darunter Russland, die Türkei, Frankreich, Italien und die USA. Nach intensivster Vermittlung durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist es inzwischen ruhiger geworden.

.) Syrien
Die ersten Proteste werden durch die Verhaftung von 15 Kindern in Syrien losgetreten. Zahlreiche Oppositionelle werden festgenommen, die Truppen von Präsident Baschar al-Assad gehen immer blutiger vor. So sterben in der Stadt Hama im August 2011 100 Menschen. Mit Boden-truppen und Panzern, unterstützt von Kriegsschiffen rückt Assad auf die Hafenstadt Itakia vor. Dennoch reissen die Proteste nicht ab. Assad reagiert mit einer Regierungsumbildung und der Aufhebung des Aus-nahmezustands. Dennoch werden immer mehr Städte zu Brennpunkten. Im Sommer 2011 bilden desertierende Soldaten die Freie Syrische Armee mit dem Ziel, Zivilisten von den bewaffneten Übergriffen zu schützen. Die Proteste und Demonstrationen weiten sich immer mehr zum Bürgerkrieg aus. Assad lenkt erneut ein und lässt ein Verfassungsreferendum durch-führen. Dabei wird der Führungsanspruch der Baath-Partei von Assad und der Sozialismus aus der Verfassung gestrichen. Bis einschliesslich Juli 2013 sollen nach UN-Angaben mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen sein – eine Million Menschen sind ins Ausland geflohen, vier Millionen im Land selbst auf der Flucht. Assad lässt inzwischen Nerven-gas (Sarin) etwa in Ghuta einsetzen – trotz der eindeutigen Zuordnung durch UN-Experten, bestreitet dies der Machthaber bis zuletzt und schiebt es dem Gegner zu. Ab Mai 2013 unterstützen die Hisbollah, ab 2015 auch Russland das Assad-Regime. Der Bürgerkrieg dauert nach wie vor an. Auch der Islamische Staat (IS) nutzte die Gunst der Stunde und errang innerhalb kürzester Zeit grosse Gebietserfolge.

.) Bahrein
Dort, wo sprichwörtlich das Geld aus dem Boden fliesst, würde sich kaum jemand Proteste erwarten. Trotzdem erfasst der Arabische Frühling auch das Königreich am Golf. In diesem Falle errichten am 14. Februar 2011 einige Hundert Demonstranten eine illegale Zeltstadt auf dem Perlenplatz der Hauptstadt Manama. Die Schiiten (der Grossteil der Bevölkerung) protestieren damit gegen das sunnitische Königshaus unter Hamad bin Isa Al Chalifa. Der lässt die Zeltstadt durch Sondereinheiten der Polizei räumen. Dadurch werden aus den einigen Hundert mehrere zehntausend Menschen, die sich auf den Strassen versammeln. Die Regierung schickt ein Hilfegesuch in Richtung Saudi Arabien, das mit rund 1000 Soldaten antwortet. Im Land wird der Ausnahmezustand ausgerufen, die Demonstrationen blutig niedergeschlagen. Hierauf treten einige hochrangige schiitische Politiker und Richter zurück. Verhaftungen folgen, dennoch werden die Proteste fortgesetzt – auch während des Formel I-Rennens 2012. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dauert nach wie vor an.

.) Dschibuti
Auch hier gehen tausende Menschen am 18. Februar 2011 auf die Strasse um gegen die Regierung unter Präsident Ismail Omar Guelleh zu demonstrieren. Es folgen alsdann Verhaftungen und das Versprechen des Präsidenten, Reformen anzugehen. Dieser wird bei der Präsidentschafts-wahl am 08. April erneut gewählt. Nach Oppositionsangaben verlief die Wahl nicht fair.

.) Irak
In Basra (Südirak) beginnt am 22. Februar 2011 der Arabische Frühling, drei Tage später werden auch in anderen Landesteilen Proteste gemeldet. Die Demonstranten prangern damit vornehmlich die Korruption und die hohe Arbeitslosigkeit an. Abhängig von der Region gehen Sunniten und Schiiten, aber auch Kurden auf die Strasse. Nachdem Demonstranten versucht hatten, Regierungsgebäude zu stürmen, greifen die Sonder-einheiten gewaltsam durch; viele Menschen kommen dabei ums Leben. Der Gouverneur von Basra, Scheltak Abbud, tritt am 25. Februar zurück – ihm galten wohl die meisten Proteste.

Weitere Proteste gab es in Mauretanien (gegen die Sklaverei), dem Oman (politische Reformen), den Palästinensischen Gebieten (politische Reformen), dem Sudan (politische Reformen) und auch Saudi-Arabien (konstitutionelle Monarchie und gerechtere Verteilung des Wohlstands). Die jeweiligen Machthaber reagierten mit Versprechungen für Reformen und Verfassungsänderungen – zumeist waren sie das Papier nicht wert, auf dem die Unterschriften gesetzt wurden. Viele Machthaber oder deren gleichgesinnten Nachfolger sind nach wie vor im Amt. In nahezu keinem Land des Arabischen Frühlings hat sich die Situation für das Volk verbessert. Meist folgte auf eine Autokratie die nächste Autokratie. Der Wunsch nach Freiheit, Demokratisierung und Menschenrechten ist zumeist als Traumblase geplatzt.
Auch in nicht-arabischen Staaten kam es zu grossen Demonstrationen und Protesten: China, dem Iran, Malawi – ja sogar in Spanien. In Israel löste die obdachlos gewordene Filmemacherin Daphni Leef im Juli 2011 eine Protestwelle mit hundertausenden Teilnehmern aus. Als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, schlug sie ihr Zelt auf dem Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards in Tel Aviv auf. Viele folgten ihr, noch mehr der Idee des Protests für soziale Gerechtigkeit. Minister-präsident Benjamin Netanjahu versprach auch hier Reformen. Die meisten verliefen angesichts Corona im Sande.
Viele von Ihnen werden nun sagen: Arabien – das ist weit weg, geht mich deshalb nichts an! Tatsächlich sind diese Entwicklungen auch in Europa sehr stark zu spüren: Viele Menschen flüchten in den vermeintlich „goldenen Norden“. Neue Probleme warten auf sie! Ein neues Leben, das zumeist nicht besser ist als das, das sie vor ihrer Flucht geführt haben. Gelingt es der Staatengemeinschaft nicht, die Probleme vorort, wie Korruption, Gewalt, Diskriminierungen, Wirtschaft etc. zu lösen, wird der Flüchtlingsstrom niemals abreissen, sondern immer grösser werden. Besonders die Ausbeutung der dortigen Bevölkerung durch globale Multi-player, ermöglicht durch die Bereicherung der regierenden Autokraten, sollte als erstes gestoppt werden.

Nahezu jede Revolution beginnt durch den Kampf ums Brot!

Filmtipps:

– www.arte.tv/de/videos/103264-001-A/wo-steht-die-arabische-welt-heute/
– www.arte.tv/de/videos/101716-000-A/10-jahre-arabischer-fruehling -eine-bilanz/

Lesetipps:

.) Der arabische Frühling. Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern, Jörg Armbruster; Westend Verlag 2011
.) Der Aufstand: Die arabische Revolution und ihre Folgen; Volker Perthes; BPB 2011
.) Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt; Michael Lüders; C.H.Beck 2011
.) Krieg oder Frieden: Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens; Hamed Abdel-Samad; Droemer 2011
.) Der arabische (Alb-)Traum. Aufstand ohne Ziel; Anne-Béatrice Clasmann; Passagen Verlag 2016
.) Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas; Peter Scholl-Latour; Propyläen-Verlag 2011
.) Vernetzt Euch!; Lina Ben Mhenni; Ullstein 2011
.) The New Middle East: Protest and Revolution in the Arab World; Hrsg.: Fawaz A. Geerges; Cambridge University Press 2014

Links:

– unric.org
– www.giga-hamburg.de
– www.bpb.de
– www.swp-berlin.org
– www.kas.de
– www.boell.de
– www.bildungsserver.de
– www.zfw.uni-hamburg.de

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