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Eritrea – ein Land in der Todeszone

16. September 2023: Im Römerkastell von Stuttgart läuft eine Veran-staltung des Eritrea–Vereins. Derartige Events sind nicht aussergewöhn-liches! Die Veranstaltung ist angemeldet, deshalb sichern diese auch nur wenige Polizisten ab. Von einer Sekunde auf die andere jedoch kippt das Ganze: Rund 200 Männer tauchen auf, die in einer nicht angemeldeten Demonstration gegen dieses Event protestieren. Es handelt sich dabei um Gegner des Regimes in Eritrea. Sie vermuten, dass regimetreue Mitstreiter an der Veranstaltung teilnehmen. Die Polizisten sind auf das nicht vorbereitet! Sie versuchen, das Römerkastell so gut als möglich abzu-schirmen, doch geht der wütende Mob mit Dachlatten und Brettern auf sie los – es fliegen auch Pflastersteine und Flaschen. 39 Polizisten werden dabei verletzt.

Anfang März fand vor dem Amtsgericht Stuttgart–Bad Cannstatt der Prozess statt. Die Polizei–Mitschnitte zeigen Szenen der Brutalität und Gewalt, wie wir sie aus Reportagen oder Social Media–Clips hauptsächlich aus dem Nahen Osten kennen. Dabei wurden nach intensiven Recherchen und v.a. Auswertungen dieser Polizei–Mitschnitte jene Eritreer abgeurteilt, die diesen Krawall auslösten. So etwa der 29–jährige Hauptangeklagte, der zuerst einen Bauzaun–Betonfuß (!) und später einen mehr als drei Kilogramm schweren Pflasterstein geworfen und damit diese Gewaltaus-schreitungen ausgelöst haben soll: Besonders schwerer Landfriedens-bruch und gefährliche Körperverletzung! Nach dem Absitzen seiner Strafe (drei Jahre und neun Monate), soll er sofort abgeschoben werden. Unwahrscheinlich, da ihm in Eritrea wohl der sofortige Tod droht – Abschiebungsverbot! Die anderen Teilnehmer kamen aus dem Umland von Stuttgart, aber auch aus der Schweiz und Hessen. Einige Wochen zuvor fand in Giessen eine ähnliche Veranstaltung statt, bei der es ebenfalls zu Ausschreitungen gekommen ist.

Was läuft da eigentlich in Eritrea?

Das Land zählt zu den ärmsten Regionen dieser Welt – und ist eine der radikalsten Diktaturen: Keine Opposition, eine Schein–Verfassung, von demokratischen Einrichtungen wie offenen bzw. fairen Wahlen (andere Parteien sind nicht zugelassen) oder Gewaltenteilung keine Spur. Die komplette Macht liegt in den Händen von Isayas Afewerki, dem de facto–Präsidenten. Wahlen finden nur auf regionaler Ebene statt – davon kann man halten, was man will. Im Demokratieindex belegte Eritrea 2023 Rang 152 von 167! Im Menschenrechts–Beobachterbericht der UN vom 28. Mai 2013 wird von willkürlichen Tötungen und Verhaftungen, erzwungenem „Verschwindenlassen“ und dem Nichtvorhandensein von Meinungs–, Religions– und Versammlungsfreiheit gesprochen. Das von den italienischen Faschisten 1936 errichtete KZ Nocra wird auch heute noch genutzt.

Von den 3,8 Mio Einwohnern (Schätzungen liegen bei nahezu dem Doppelten) leben rund 75 % von der Landwirtschaft. Trotzdem müssen Nahrungsmittel importiert werden, da Bauern zum Militärdienst gezwungen werden und immer wieder Dürren das Land heimsuchen. Daneben werden Gold, Silber, Kupfer, Pottasche, Schwefel, Zink und Eisen sowie Marmor abgebaut und in grossem Maße exportiert – wie etwa auch das Salz. Das nominale Bruttoinlandsprodukt liegt bei geschätzten 2 Milliarden US–Dollar, und damit bei nicht mal der Hälfte der Gläubiger–Forderungen in der Causa Signa und René Benko.

Geographisch grenzt Eritrea an den Sudan, Äthiopien, Dschibuti und das Rote Meer.

Die Geschichte des Landes ist sehr bunt: Während das Hochland das Königreich Medri Bahri beinhaltete, war das Tiefland Eritreas über 300 Jahre hinweg Kolonie der Osmanen bzw. Ägypter. Nach dem Überfall der Italiener auf Äthiopien wurde die gesamte Region ab 1936 zur Kolonie Italienisch/Ostafrika, ab 1941 stand es unter britischer Verwaltung. Mit 1952 zählte Eritrea zum Kaiserreich Abessinien, ab 1961 zum äthiopischen Kaiserreich unter Haile Selassie. Es folgte ein dreissig-jähriger Unabhängigkeitskrieg und mit Hilfe zuerst der Eritreischen Befreiungsfront, später der Eritreischen Volksbefreiungsfront schliesslich 1993 die Unabhängigkeit von Äthiopien.

Nachdem 1998 erneut ein Grenzkonflikt zwischen beiden Staaten aufkeimte, startete die UN die Beobachtermission UNMEE, die allerdings 2008 auslief. 2018 wurde ein Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Eritrea geschlossen. Bereits 1993 hatte die Eritreische Volksbefreiungs-front das Machtvakuum genutzt und ein Ein–Parteien–System unter dem noch heutigen Machthaber Isaias Afewerki aufgebaut. Er regiert seither autoritär, die männliche und weibliche Bevölkerung wird zum unbe-fristeten Wehrdienst verpflichtet, der allerdings eher einer Zwangsarbeit gleichkommt. Kritiker sprechen deshalb vom „Sklavenstaat“ oder „Nordkorea Afrikas“! Wehrdienstverweigerern drohen bis zu fünf Jahrem Haft oder in Kriegszeiten lebenslänglich bzw. die Todesstrafe – ihren Familien Repressalien. Dieser sog. „Wehrdienst“ ist die Hauptursache für die vielen Flüchtlinge aus Eritrea. Eine Pressefreiheit gibt es nicht – alle Medien sind staatlich kontrolliert und zensiert. Im Presseindex der Reporter ohne Grenzen belegt das Land stets einen der letzten Plätze – 2023 war es Rang 174 von 180. Religiöse Minderheiten werden verfolgt. So berichtet Amnesty International von der Haft Angehöriger staatlich verbotener Minderheitskirchen (wie evangelikale Christen oder Zeugen Jehovas, aber auch Moslems, die den staatlich eingesetzten Mufti nicht anerkennen) in Frachtcontainern – auch bei glühender Hitze. Frauen haben so gut wie kein Sprachrecht – im Gegenteil: So lag etwa die Genitalverstümmelung bei rund 89 %. Diese wurde zwar am 31. Mai 2007 verboten, doch sind keine Verurteilungen oder Strafen bekannt.

Wie in allen anderen totalitären Staaten gibt es allerdings auch positives zu vermelden: Für Kinder zwischen 7 und 13 Jahren besteht Schulpflicht, Personen mit Armutsausweis erhalten kostenlose medizinische Hilfe.

Die Armut jedoch ist eklatant. Viele der Einwohner leben vom Geld, das ihnen durch ihre Angehörigen aus dem Ausland zugeschickt wird. Doch knabbert hier auch der Staat mit: Im Ausland lebende Eritreer, die Hilfsüberweisungen tätigen, müssen zwei Prozent ihres Bruttoein-kommens als „Aufbausteuer“ an den Staat abliefern. Weigern sich diese, erhalten sie keinerlei offizielle Dokumente mehr und im Land lebende Verwandte drohen Repressalien.

Erlauben Sdie mir am Ende noch meine eigene Meinung einzubringen: Die Wut der Regimegegner ist durchaus verständlich, rechtfertigt jedoch in keinster Weise die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Polizei! Nicht verständlich hingegen ist die Tatsache, dass regimetreue Menschen nach Deutschland emigriert sind und somit dort Zuflucht gesucht haben!

Filmtipp:

– Eritrea – Der geheime Sklavenstaat; Doku von Evan Williams 2021

Lesetipps:

.) Friedensräume in Eritrea und Tigray unter Druck. Identitäts-konstruktion, soziale Kohäsion und politische Stabilität; Hrsg.: Abdulkader Saleh, Nicole Hirt, Wolbert G.C. Smidt, Rainer Tetzlaff; Lit 2008

.) Eritrea zwischen Einparteienstaat und Demokratie. Die Bedeutung der Opposition im Demokratisierungsprozess; Aklilu Ghirmai; Tectum 2005

.) Ursachen für den eritreisch-äthiopischen Grenzkonflikt. Eine historisch-politische Analyse; Sascha A. Kienzle; Tönning 2010

.) Eritrea – Aufbruch in die Freiheit; Martin Zimmermann; Verlag Neuer Weg 1991

.) Understanding Eritrea: Inside Africa’s Most Repressive State; Martin Plaut; Oxford University Press 2017

.) The Eritrean Struggle for Independence – Domination, Resistance, Nationalism 1941–1993; Ruth Iyob; Cambridge University Press 1995

.) Biopolitics, militarism, and development: Eritrea in the twenty-first century; Hrsg.: David O’Kane, Tricia Redeker Hepner; Berghahn Books 2009

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