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Eritrea – ein Land in der Todeszone

16. September 2023: Im Römerkastell von Stuttgart läuft eine Veran-staltung des Eritrea–Vereins. Derartige Events sind nicht aussergewöhn-liches! Die Veranstaltung ist angemeldet, deshalb sichern diese auch nur wenige Polizisten ab. Von einer Sekunde auf die andere jedoch kippt das Ganze: Rund 200 Männer tauchen auf, die in einer nicht angemeldeten Demonstration gegen dieses Event protestieren. Es handelt sich dabei um Gegner des Regimes in Eritrea. Sie vermuten, dass regimetreue Mitstreiter an der Veranstaltung teilnehmen. Die Polizisten sind auf das nicht vorbereitet! Sie versuchen, das Römerkastell so gut als möglich abzu-schirmen, doch geht der wütende Mob mit Dachlatten und Brettern auf sie los – es fliegen auch Pflastersteine und Flaschen. 39 Polizisten werden dabei verletzt.

Anfang März fand vor dem Amtsgericht Stuttgart–Bad Cannstatt der Prozess statt. Die Polizei–Mitschnitte zeigen Szenen der Brutalität und Gewalt, wie wir sie aus Reportagen oder Social Media–Clips hauptsächlich aus dem Nahen Osten kennen. Dabei wurden nach intensiven Recherchen und v.a. Auswertungen dieser Polizei–Mitschnitte jene Eritreer abgeurteilt, die diesen Krawall auslösten. So etwa der 29–jährige Hauptangeklagte, der zuerst einen Bauzaun–Betonfuß (!) und später einen mehr als drei Kilogramm schweren Pflasterstein geworfen und damit diese Gewaltaus-schreitungen ausgelöst haben soll: Besonders schwerer Landfriedens-bruch und gefährliche Körperverletzung! Nach dem Absitzen seiner Strafe (drei Jahre und neun Monate), soll er sofort abgeschoben werden. Unwahrscheinlich, da ihm in Eritrea wohl der sofortige Tod droht – Abschiebungsverbot! Die anderen Teilnehmer kamen aus dem Umland von Stuttgart, aber auch aus der Schweiz und Hessen. Einige Wochen zuvor fand in Giessen eine ähnliche Veranstaltung statt, bei der es ebenfalls zu Ausschreitungen gekommen ist.

Was läuft da eigentlich in Eritrea?

Das Land zählt zu den ärmsten Regionen dieser Welt – und ist eine der radikalsten Diktaturen: Keine Opposition, eine Schein–Verfassung, von demokratischen Einrichtungen wie offenen bzw. fairen Wahlen (andere Parteien sind nicht zugelassen) oder Gewaltenteilung keine Spur. Die komplette Macht liegt in den Händen von Isayas Afewerki, dem de facto–Präsidenten. Wahlen finden nur auf regionaler Ebene statt – davon kann man halten, was man will. Im Demokratieindex belegte Eritrea 2023 Rang 152 von 167! Im Menschenrechts–Beobachterbericht der UN vom 28. Mai 2013 wird von willkürlichen Tötungen und Verhaftungen, erzwungenem „Verschwindenlassen“ und dem Nichtvorhandensein von Meinungs–, Religions– und Versammlungsfreiheit gesprochen. Das von den italienischen Faschisten 1936 errichtete KZ Nocra wird auch heute noch genutzt.

Von den 3,8 Mio Einwohnern (Schätzungen liegen bei nahezu dem Doppelten) leben rund 75 % von der Landwirtschaft. Trotzdem müssen Nahrungsmittel importiert werden, da Bauern zum Militärdienst gezwungen werden und immer wieder Dürren das Land heimsuchen. Daneben werden Gold, Silber, Kupfer, Pottasche, Schwefel, Zink und Eisen sowie Marmor abgebaut und in grossem Maße exportiert – wie etwa auch das Salz. Das nominale Bruttoinlandsprodukt liegt bei geschätzten 2 Milliarden US–Dollar, und damit bei nicht mal der Hälfte der Gläubiger–Forderungen in der Causa Signa und René Benko.

Geographisch grenzt Eritrea an den Sudan, Äthiopien, Dschibuti und das Rote Meer.

Die Geschichte des Landes ist sehr bunt: Während das Hochland das Königreich Medri Bahri beinhaltete, war das Tiefland Eritreas über 300 Jahre hinweg Kolonie der Osmanen bzw. Ägypter. Nach dem Überfall der Italiener auf Äthiopien wurde die gesamte Region ab 1936 zur Kolonie Italienisch/Ostafrika, ab 1941 stand es unter britischer Verwaltung. Mit 1952 zählte Eritrea zum Kaiserreich Abessinien, ab 1961 zum äthiopischen Kaiserreich unter Haile Selassie. Es folgte ein dreissig-jähriger Unabhängigkeitskrieg und mit Hilfe zuerst der Eritreischen Befreiungsfront, später der Eritreischen Volksbefreiungsfront schliesslich 1993 die Unabhängigkeit von Äthiopien.

Nachdem 1998 erneut ein Grenzkonflikt zwischen beiden Staaten aufkeimte, startete die UN die Beobachtermission UNMEE, die allerdings 2008 auslief. 2018 wurde ein Friedensvertrag zwischen Äthiopien und Eritrea geschlossen. Bereits 1993 hatte die Eritreische Volksbefreiungs-front das Machtvakuum genutzt und ein Ein–Parteien–System unter dem noch heutigen Machthaber Isaias Afewerki aufgebaut. Er regiert seither autoritär, die männliche und weibliche Bevölkerung wird zum unbe-fristeten Wehrdienst verpflichtet, der allerdings eher einer Zwangsarbeit gleichkommt. Kritiker sprechen deshalb vom „Sklavenstaat“ oder „Nordkorea Afrikas“! Wehrdienstverweigerern drohen bis zu fünf Jahrem Haft oder in Kriegszeiten lebenslänglich bzw. die Todesstrafe – ihren Familien Repressalien. Dieser sog. „Wehrdienst“ ist die Hauptursache für die vielen Flüchtlinge aus Eritrea. Eine Pressefreiheit gibt es nicht – alle Medien sind staatlich kontrolliert und zensiert. Im Presseindex der Reporter ohne Grenzen belegt das Land stets einen der letzten Plätze – 2023 war es Rang 174 von 180. Religiöse Minderheiten werden verfolgt. So berichtet Amnesty International von der Haft Angehöriger staatlich verbotener Minderheitskirchen (wie evangelikale Christen oder Zeugen Jehovas, aber auch Moslems, die den staatlich eingesetzten Mufti nicht anerkennen) in Frachtcontainern – auch bei glühender Hitze. Frauen haben so gut wie kein Sprachrecht – im Gegenteil: So lag etwa die Genitalverstümmelung bei rund 89 %. Diese wurde zwar am 31. Mai 2007 verboten, doch sind keine Verurteilungen oder Strafen bekannt.

Wie in allen anderen totalitären Staaten gibt es allerdings auch positives zu vermelden: Für Kinder zwischen 7 und 13 Jahren besteht Schulpflicht, Personen mit Armutsausweis erhalten kostenlose medizinische Hilfe.

Die Armut jedoch ist eklatant. Viele der Einwohner leben vom Geld, das ihnen durch ihre Angehörigen aus dem Ausland zugeschickt wird. Doch knabbert hier auch der Staat mit: Im Ausland lebende Eritreer, die Hilfsüberweisungen tätigen, müssen zwei Prozent ihres Bruttoein-kommens als „Aufbausteuer“ an den Staat abliefern. Weigern sich diese, erhalten sie keinerlei offizielle Dokumente mehr und im Land lebende Verwandte drohen Repressalien.

Erlauben Sdie mir am Ende noch meine eigene Meinung einzubringen: Die Wut der Regimegegner ist durchaus verständlich, rechtfertigt jedoch in keinster Weise die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Polizei! Nicht verständlich hingegen ist die Tatsache, dass regimetreue Menschen nach Deutschland emigriert sind und somit dort Zuflucht gesucht haben!

Filmtipp:

– Eritrea – Der geheime Sklavenstaat; Doku von Evan Williams 2021

Lesetipps:

.) Friedensräume in Eritrea und Tigray unter Druck. Identitäts-konstruktion, soziale Kohäsion und politische Stabilität; Hrsg.: Abdulkader Saleh, Nicole Hirt, Wolbert G.C. Smidt, Rainer Tetzlaff; Lit 2008

.) Eritrea zwischen Einparteienstaat und Demokratie. Die Bedeutung der Opposition im Demokratisierungsprozess; Aklilu Ghirmai; Tectum 2005

.) Ursachen für den eritreisch-äthiopischen Grenzkonflikt. Eine historisch-politische Analyse; Sascha A. Kienzle; Tönning 2010

.) Eritrea – Aufbruch in die Freiheit; Martin Zimmermann; Verlag Neuer Weg 1991

.) Understanding Eritrea: Inside Africa’s Most Repressive State; Martin Plaut; Oxford University Press 2017

.) The Eritrean Struggle for Independence – Domination, Resistance, Nationalism 1941–1993; Ruth Iyob; Cambridge University Press 1995

.) Biopolitics, militarism, and development: Eritrea in the twenty-first century; Hrsg.: David O’Kane, Tricia Redeker Hepner; Berghahn Books 2009

Links:

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Lasst die Waffen sprechen

„Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“
(2. Zusatzartikel zur US-amerikanischen Verfassung)

Kinder – da ist was los! Jedes Jahr, wenn das Militär (ob Bundeswehr, Bundesheer oder eidgenössische Armee sei jetzt mal nicht Gegenstand) zur Leistungsshow, Tag der offenen Tür, Roadshow oder was auch immer in die Kasernen bittet, kann man glitzernde Kinderaugen sehen. Der Traum eines wohl jeden Kindes, einmal in einem Panzer mitzufahren, einmal im Leben mit einem Black Hawk-Hubschrauber mitzufliegen oder gar mal mit einer echten Waffe zu schiessen. Es ist das Spielzeug der Erwachsenen, das eine derartige Faszination auf die Kleinen ausübt. Schliesslich verleiht es All-Macht (nicht nur in der Kinderwelt) und sorgt dafür, dass der Kleine cool ist, von vielen Mädchen angehimmelt wird. Wir alle spielten damals als Kinder Räuber und Gendarm, Winnetou und Old Shatterhand oder auch eine Spezialeinheit, die die als Geiseln gefangen gehaltenen Mädchen von nebenan befreien musste. Immer mit dabei: Das Spielzeug-Gewehr oder die Spielzeugpistole. Erlaubten es die Eltern nicht, versteckte man das Zeugs irgendwo beim Nachbarn, der nichts dagegen hatte. Jene, die sich an das Verbot der Eltern hielten, wurden ausgegrenzt und galten als Schwächlinge oder Feiglinge. Als Mama-Söhnchen! Fragt Mami heute die Kleinen, als was sie sich im Fasching verkleiden möchten, sagen sicherlich über 80 % der Jungen: Als Cowboy! Die Eltern stehen dem zumeist ohnmächtig gegenüber! Und die Grösseren? Die verbringen jede freie Sekunde mit irgendwelchen Baller- oder Massakrierspielen an den PCs, den Spielboxen oder am Handy.
Am 25. Juni wird der diesjährige Tag der Bundeswehr in Warendorf/NRW vonstatten gehen. Zum ersten Mal übrigens wieder seit dem Beginn der Pandemie in real (aber für die Daheimgebliebenen auch digital). Gerade angesichts des russischen Einmarschs in der Ukraine werden sich sicher-lich zigtausende Menschen über den Stand in der kämpfenden Truppe informieren wollen. Keine Frage also, dass besonders Familien mit Kindern die offenen Kasernentore nutzen um sich alles genauestens anschauen zu können. Als an der Waffe ausgebildeter Soldat denkt man sich auch nichts dabei, die Waffe vor den Augen der Kinder zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Schliesslich weiss ja jeder, dass das gute Stück nicht geladen ist und jegliche Munition gut versperrt in der Stahl-kammer des Waffen-UOs liegt. Auch wenn ein Kind mal darum bittet, das Gewehr oder die Pistole in die Hand nehmen zu dürfen, ist das für viele Uniformierten kein Problem. Dennoch ist das Personal angewiesen, den Kindern keine Waffen in die Hand zu geben. Immer wieder stellen die stolzen Eltern derartiger Bilder sogar noch selbst in die sozialen Medien. Zu gross war der Shitstorm in den letzten Jahren, als dort kleine Kinder mit dem G36-Gewehr im Anschlag oder beim Hantieren mit der Maschinen-Pistole MP7 oder der Faustfeuerwaffe P8 auftauchten. Ein Vergehen, das einen eindeutigen Verstoss gegen die bestehenden Vorschriften der Bundeswehr darstellt. Mei lieber Schorle – wenn ich daran denke, wie lange wir als Rekruten die ungeladene Büchse herumschleppen und zerlegen mussten, bevor wir den ersten Schuss abgeben durften! Und Handwaffen bei Minderjährigen – das geht schon mal gar nicht! Völlig zurecht, geht doch die vorhin bereits beschriebene Faszination von diesen Gerätschaften aus. Es kann gar zur Sucht ausarten, wobei der Nachwuchs nichts über die Sicherheitsbestimmungen im Umgang mit Handwaffen weiss. Er weiss auch nicht zu unterscheiden, ob eine Waffe geladen oder ungeladen ist! In den USA kommt es statistisch gesehen jede Woche zu einem Unfall durch eine Waffe in Händen von Kleinkindern!

Doch auch bei den grösseren ist Feuer am Dach angesagt, sollten sie Zugriff zu Handwaffen haben. Nicht wenige davon leiden – bedingt durch die Baller- und Massakrierspiele – an Realitätsverlust. Die Unterscheidung dessen, was sie in der Wirklichkeit anstellen können im Vergleich zum konsequenzlosen Shooter-Game kann von vielen nicht mehr getroffen werden und sie werden zu Amokläufern meist in ihrer eigenen Schule.

„Wer eine Waffe in die Hand nimmt, wird auch davon Gebrauch machen!“

Dies ist der durchaus berechtigte Grundsatz der Sicherheitskräfte – auch wenn diese Waffe eine Schreckschuss-Pistole ist. Sehr dünnes Eis…!!! Die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte 2016 alle Hände voll damit zu tun, aufgebrachte Eltern aber auch Parteien und Organisationen wie die Deutsche Friedensgesellschaft zu besänf-tigen, nachdem Bilder einer Leistungsschau in Stetten in den SoMes zu sehen waren. Ermittlungsverfahren wurden aufgenommen – gegen betroffene Soldaten Disziplinarmassnahmen eingeleitet. Jenseits des grossen Teiches prahlte auch heuer ihr ehemaliger US-amerikanische Berufskollege Donald Trump damit, dass Waffen auch an den Schulen Einzug halten müssen. Unter Applaus der mächtigen Waffenlobby National Rifle Association (NRA) hatte er in deren Jahreshauptversammlung Ende Mai im George R. Brown Convention Center in Houston die Aufhebung der letzten waffenfreien Zone in den USA, somit alsdann der Schulen, gefordert. Die Gründe Trumps:
– Je mehr Waffen in Verwendung sind, desto geringer ist die Waffengewalt
– Die verwundbaren Amerikaner dürfen nicht entwaffnet werden

„Die Existenz des Bösen ist einer der allerbesten Gründe, gesetzes-treue Bürger zu bewaffnen.“
(Donald Trump, ehemaliger US-Präsident)

HALLO??? Ist der Mann denn noch ganz trocken unter seinem Toupet? Bekommt nun jedes Mitglied des Lehrerkollegiums ein absperrbares Fach im Lehrerzimmer, in dem die geladene Clock oder der Colt liegt? Nur 5 Tage zuvor hatte der Amoklauf in Uvalde 21 Opfer gefordert – 19 Kinder und 2 Pädagoginnen. Sollte wieder einer dieser jugendlichen Amokläufer in der Schule auftauchen, gibt’s ein wildes Feuergefecht zwischen Täter, Sicherheitskräften und Lehrer. Alle dabei Erschossenen oder Verletzten sind Kollateralschäden! Und was geschieht, wenn ein Lehrkörper zum Leerkörper wird und ausrastet (wie im Februar 2010 die 44-jährige Biologie-Dozentin Amy Bishop an der University of Alabama in Huntsville – 3 Tote, 3 weitere verletzt)) – oder in das Konferenzzimmer eingebrochen wird? Die Volksbewaffnung der Zwerge? Übrigens tragen in der NRA-Version des Gebrüder-Grimm-Märchens „Hänsel und Gretel“ oder auch im „Rotkäppchen“ alle Figuren Gewehre! Kinder ab sechs Lebensjahren werden immer mehr zur Zielgruppe der Waffenindustrie. Und für die kleinen Mädchen, die bisher mit der Barbiepuppe gespielt haben, gibt’s echte rosafarbene Gewehre aus Kunststoff, damit diese nicht zu schwer sind!

„Bringen Sie Ihren Kindern die Coolness und den Spaßfaktor des taktischen Schießens nahe!“
(Werbe-Slogan der US-Waffenindustrie)

Im Mai 1999 erschossen zwei Jugendliche mit Sturmgewehren 13 Menschen bei einem Amoklauf in der Columbine High School in Littleton bei Denver, 2005 tötete ein Jugendlicher in Red Lake/Minnesota zuerst seinen Grossvater und dessen Lebensgefährtin, drang dann in eine Schule ein und tötete dort fünf Schüler und eine Lehrerin sowie einen Sicherheitsbeauftragten. Im Dezember 2012 erschoss in Newtown/ Connecticut ein 20-jähriger zuerst seine Mutter, dann drang er in die Sandy Hook Elementary School ein. 20 Kinder im Alter von fünf bis zehn Jahren, und sechs Schulmitarbeiterinnen (darunter auch die Direktorin) überlebten diesen Amoklauf nicht, bevor sich der Täter selbst erschoss. Im Februar 2018 wurden beim „Schulmassaker von Parkland“ an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland/Florida 14 Schüler und 3 Erwachsene erschossen, 17 weitere verletzt. Und schliesslich die Robb Elementary School von Uvalde/Texas: Ein 18-jähriger erschiesst 19 Grundschüler und zwei Lehrerinnen. Nur eine kleine Auswahl des Schreckens – die Liste ist wesentlich länger.
Aber auch Deutschland blieb nicht verschont: So erschoss im April 2002 ein 19-jähriger im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt/Thüringen 16 Menschen, ein 17-jähriger im März 2009 an der Albertville-Realschule von Winnenden/Baden-Württemberg neun Schüler, drei Lehrerinnen und drei Passanten. Beim Amoklauf von Ansbach/Bayern wurden im Sep-tember 2009 neun Schüler und eine Lehrerin verletzt.
Doch sind es nicht nur Jugendliche, die mit ihrem Leben auf diese Weise Schluss machen und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod nehmen möchten. 2007 sterben bei einem Amoklauf an der Virginia Tech-Hochschule in Blackburg 27 Studenten und fünf Hochschullehrer, sowie der 23-jährige Täter selbst. 2012 wurden beim Kino-Massaker von Aurora 12 Menschen von einem 24-jährigen erschossen, 58 weitere zum Teil schwer verletzt. In einem Schwulen- und Lesbenclub in Orlando erschiesst im Juni 2016 ein psychisch kranker 29-Jähriger nicht weniger als 50 Menschen, 53 wurden verletzt. In Sutherland Springs/Texas schiesst im November 2017 ein 26-jähriger in einer Kirche wild um sich – 26 Menschen überleben dies nicht. Und zuletzt der heftigste Amoklauf von allen: Im Oktober 2017 schiesst ein 64-jähriger aus dem 32. Stock-werk eines Hotels in Las Vegas/Nevada auf die Besucher eines gegenüber stattfindenden Festivals. 58 Menschen werden getötet, hunderte weitere verletzt. Dieser Tage schliesslich drang ein Mann in ein Krankenhaus in Tulsa/Oklahoma ein und tötete mit einem Gewehr und einer Handfeuer-waffe vier Menschen und sich selbst.
Augenzeugen und Psychologen berichten von einem Blutrausch der Täter, eine Art Trance. Gekennzeichnet von Ausweglosigkeit, ohne Skrupel, Mit-gefühl oder Mitleid. Die Extremsituation macht den Täter unzurechnungs-fähig und zu jeder Art von Gewalt bereit. In Europa hat es 2011 der wahnsinnige Anders Behring Breivik aufgezeigt: Er tötete in Oslo und auf der Ferieninsel Utaya nicht weniger als 77 Menschen. Wie anders als mit dem Wort „Blutrausch“ kann das erklärt werden??? Der gehört nicht hinter Gitter, sondern ein Leben lang in eine jener Jacken, die sich am Rücken binden lassen, um zu sehen, wie hilflos die von ihm so vergötterte Menschenrasse sein kann! Besonders gefährdet übrigens von der Situation der Ausweglosigkeit: Jugendliche! Empfinden sie doch sehr rasch etwas als Schlusspunkt, obwohl es noch viele Lösungswege gäbe!
In den USA starben im letzten Jahr 2021 20.329 Menschen durch Schuss-waffen – Suizide nicht berücksichtigt. Das waren 846 mehr als noch 2020. Tendenz also stark steigend! Darunter jeden Tag auch Kinder: 2020 waren es 4.368 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre. Im Vergleich: Im Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen (Verkehrsunfälle) waren es im selben Jahr 4.036. Auch Kleinkinder bleiben dabei nicht verschont: Die Washington Post weiss von 43 Vorfällen im Jahr 2015 – mit Kleinkindern!!! Trotzdem haben die Republikaner während des Wahlkampfes von Donald Trump Sturmgewehre verlost! Die NRA gehört stets zu den grössten Geldgebern im republikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf. Der demo-kratische Ex-Präsident Barack Obama hatte mehrere Anläufe unter-nommen, das Waffengesetz zu verschärfen. Ohne Erfolg! Jetzt versucht es sein ehemaliger Vizepräsident und nunmehriger Amtsinhaber Joe Biden erneut. Doch gibt es nach den Kongresswahlen vom 03. November 2020 und 05. Januar 2021 eine Patt-Stellung. Im Senat gehören den Demo-kraten 48 Sitze, den Republikanern 50 – 2 sind unabhängig besetzt. Im Repräsentantenhaus sind 222. Demokraten und 209 Republikaner vertreten. In beiden Häusern wird am 08. November dieses Jahres gewählt. Bei diesen Verhältnissen ein neues Waffengesetz durchzu-bringen, wird sehr schwierig. Unter Tränen hat Obama am Ende seiner Legislaturperiode erneut an die Amerikaner appelliert, ein strengeres Waffengesetz einzuführen. In seiner Amtsperiode hatten lange Zeit die Republikaner in beiden Häusern die Mehrheit.

Frechheit – nicht dran zu denken, dass ein afro-amerikanischer Präsident den gesetzestreuen und nationalbewussten weissen US-Bürgern die Waffen abnimmt, wenn in so manchem US-Bundesstaat sogar der Ku-Klux-Klan ganz offiziell mit Hilfe der Polizei schwarzen Mitbürgern die Waffen entzog (war dies eindeutig zweideutig genug?)!!! Immer wieder kommt es zu Demonstrationen auf den Strassen, aber auch im Kongress: Ende Juni 2016 demonstrierten nicht weniger als 200 demokratische Abgeordnete mit einem Sitzstreik im US-Repräsentantenhaus für schärfere Waffengesetze – leider vergeblich! Gesetzesinitiativen, wie etwa jene für das Verbot halbautomatischer Waffen, schafften nicht mal den Weg zur Abstimmung in den Kongress!
90 % der US-Amerikaner besitzen eine Waffe. Afro-Amerikanern und Indianern war dies jedoch bis in’s 20. Jahrhundert hinein verboten! Soweit also zur Verfassung, vor der jeder Mensch gleich ist, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Im US-Bundesstaat Iowa beispielsweise dürfen auch Blinde eine Waffe besitzen und damit schiessen. Das geltende Recht der Verteidigung darf alsdann Menschen mit Einschränkungen nicht verweigert werden. Auch ich bin der Meinung, dass sich Blinde verteidigen können sollten. Schliesslich verabscheue ich jene, die sich an Wehrlosen vergreifen. Allerdings könnten hierbei umso mehr Unschuldige verletzt oder gar getötet werden. In Kansas und Missouri darf die örtliche Polizei FBI-Agenten verhaften, wenn diese eine Waffenkontrolle durchführen!!! Eine Teilorganisation der NRA, die Stiftung „Second Amendment Foundation“ tritt für ein freies Tragen der Waffe ein. Sie veranstaltete in einem StarBucks in Sandy Hooks ein Meeting – mit offen getragenen Waffen. In dieser Kleinstadt verübte ein 20-jähriger im Dezember 2012 in der dortigen Elementary School einen Amoklauf. 20 Kinder, sechs Schulangestellte und die Mutter des Täters starben dabei. Gestatten Sie mir eine Frage: In welch einer Zeit leben wir eigentlich, dass Tote dermassen verhöhnt werden können? Sollen die Lehrer – zumindest wenn es nach Willen der NRA geht – die Unterrichtsstunden mit einem Sturm-gewehr, Waffengurten und vielleicht dem einen oder anderen Eierhandgranätchen abhalten??? Die StarBucks-Filialleitung übrigens machte das einzig Richtige: Sie schloss den Laden und setzte die Waffenträger vor die Türe. Vonseiten der Zentrale wurde später veröffentlicht, dass eine frei getragene Waffe für eine „ungemütliche“ Stimmung im Lokal sorge, man jedoch nicht grundsätzlich gegen Waffen sei!
Am 29. Januar 1979 lieferte sich in San Diego eine 16-jährige mit der Polizei ein Feuergefecht. Zuvor hatte sie mit dem Gewehr, das sie von ihrem Vater geschenkt bekam, auf Schulkinder der Cleveland Grundschule geschossen. Zwei Erwachsene starben im Kugelhagel, acht Kinder und ein Polizist wurden verletzt. In einem Telefoninterview während der Tat gab sie als Grund an:

„I don’t like Mondays. This lives up the day.“

Der Satz diente später Bob Geldof und seinen Boomtown Rats als Hinter-grund ihres Songs. Im Verhör meinte sie alsdann, es habe Spass gemacht! Oder jener Marine-Veteran, der in aller Gemütsruhe in einem Büro-gebäude in Washington sein Gewehr zusammensetzt – wenig später sind 12 Menschen tot. Das hat meines Erachtens mit Spass oder Zeitvertreib nichts mehr zu tun!
Auch in der Schweiz schiessen die Kleinen bereits in den Schützen-vereinen – das ist dort Tradition. Dass jedoch auch immer wieder Zwischenfälle mit Militärwaffen, die die eidgenössischen Miliz-Ange-hörigen bislang mit nach Hause nehmen durften, geschehen, führt niemand auf das Aufwachsen mit der Waffe zurück!
Donald Trump hat der NRA zugesichert, dass er in seiner Präsidentschaft das Recht auf Waffenbesitz der Amerikaner achten und wertzuschätzen wisse. Er hielt Wort. Und was die verwundbaren US-Bürger angeht: Jene Bevölkerungsschicht, die am meisten Opfer von Gewaltverbrechen sind – zeigen immer wieder Studien auf – sind die jungen, schwarzen Amerikaner. Die NRA aber ist vornehmlich weiss!!! Gegründet wurde diese übrigens 1871 als Schützenverein. Vorrangiges Ziel war die Verbesserung der Treffsicherheit der Reservisten und Milizionäre – der heutigen Nationalgarde. Gegenwärtig gehören der Vereinigung rund 5 Millionen Mitglieder an. 1963 – der Kennedy-Mord: Angeblich wurde das Gewehr von der NRA per Post bestellt. Wie es dann in die Hände des Schützen Lee Harvey Oswald kam, wird nach wie vor geheimgehalten.
Das Land kehrt also wieder in jene Zeiten zurück, in welchen jener, der am schnellsten zieht auch am meisten zu sagen hat, allerdings stets in der Angst leben muss, aus dem Hinterhalt oder von einem Schnelleren erschossen zu werden! Spinnen wir die Überlegungen weiter: Wie viele Personen werden unschuldig durch die Polizei erschossen, da diese befürchten muss, dass anstelle der Ausweis-Papiere eine Waffe gezogen wird? In Dallas wurden fünf Polizisten während einer Demonstration gegen Polizeigewalt von einem Heckenschützen erschossen – 11 weitere verletzt. Wenige Stunden zuvor sollen Polizisten zwei unschuldige junge Schwarze grundlos erschossen haben – eine der Taten wurde von der Freundin des Opfers live via Facebook übertragen (hier war ein defektes Blinklicht am Fahrzeug die Ursache). Ist man sich bei einem Streit mit dem Nachbarn oder im Bierzelt sicher, dass der nicht nach Hause geht und mit der Waffe wieder zurückkommt – wie jener Amokschütze im Vorarlberger Ort Nenzing bei einem Konzert?! Trump übrigens hat sich in den Jahren zuvor immer wieder gegen Waffen ausgesprochen! Was wohl hat diese wundersame Wandlung bewirkt?! Inzwischen glaubt die Bevölkerung immer mehr daran, dass die Amokläufe nur durch Geisteskranke gemacht werden. Die NRA hat gute Arbeit geleistet! Bleibt zu klären, wie diese Irren an die Waffen bzw. an Waffenbesitzkarten (hierzulande) kommen.
Amerika rüstet auf – leider immer mehr auch Deutschland, Österreich und die Schweiz! In Deutschland befinden sich 5,4 Mio Waffen in Privatbesitz, in Österreich über 1,1 Mio und in der Schweiz 2,3 Mio Kleinwaffen.

Links:

everytown.org/
www.nti.org
www.dfg-vk.de
www.paxchristi.net/
www.aufschrei-waffenhandel.de/
www.friedenskooperative.de
www.vdb-waffen.de/
iwoe.at/
www.ipsc.ch
home.nra.org
saami.org/
www.ieacs.eu/
aecac.eu/
www.wfsa.net/
iapcar.org/
www.face.eu/


Lesetipps:

.) Amok im Kopf: Warum Schüler töten; Peter Langmann; Beltz 2009
.) Mein Leben / Die Schüler von Winnenden: Unser Leben nach dem Amoklauf; Daniel Oliver Bachmann; Arena 2013
.) Amoklauf und School Shooting; Herbert Scheithauer/Rebecca Bondü; Vandenhoeck & Ruprecht 2011
.) Das Waffenrecht in den USA: Eine Darstellung und Bewertung der Argumente der Waffenlobby sowie der aktuellen Situation; Felix Grünewald; GRIN Verlag 2014
.) The National Rifle Association and the media: the motivating force of negative coverage; Brian Anse Patrick; Peter Lang, New York 2002
.) Gun Control: Threat to Liberty or Defense against Anarchy?; Wilbur Edel; Praeger Publishers, Westport 1995
.) Interest Group Politics in America; Ronald J. Hrebenar; M E Sharpe Inc, 1997
.) Arming America: The Origins of a National Gun Culture; Richard Bernstein, Michael A. Bellesiles; Soft Skull Press, 2003

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